Die agile Sonnenseite
Flache Hierarchien, Selbstorganisation und Generation Y sind in – formale Hierarchien, Stellenbeschreibungen und Organigramme (mal wieder) out (#nextland Management Trends). Man bekommt schon fast ein schlechtes Gewissen, wenn das eigene Unternehmen noch nicht auf der agilen Welle surft, in Backlogs, Sprints, Reviews und Retros denkt. Die dazu passenden Rollen werden gleich mitgeliefert: Product Owner, Scrum Master und Entwicklungsteams ersetzen historisch gewachsene Funktionen und Positionen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Künstlich eingezogene Leitungsebenen, Abteilungsgrenzen und unnötige Schnittstellen gehören der Vergangenheit an. Entscheidungen werden schneller getroffen, stets im Interesse des Kunden und der Wertschöpfung. Nicht zuletzt werden Verschwendungen vermieden, Ressourcen effizienter und effektiver eingesetzt. Die Frischzellenkur für jedes Unternehmen. Und natürlich ziehen alle Kolleginnen und Kollegen mit. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!
Die agile Schattenseite
Mit dem organisatorischen Hausputz gehen jedoch oft auch bewährte Routinen und Standards verloren. Kollegen und Kolleginnen fühlen sich überrumpelt, können mit dem Tempo der organisatorischen Veränderung nicht mithalten. Schnell entstehen Priorisierungsprobleme, man ist mehr und mehr mit sich und seinen neuen Rollen und Aufgaben beschäftigt, zu Lasten des operativen Tagesgeschäfts.
Der agile Coach
Damit die Organisationsentwicklung nicht auf halber Strecke verpufft, braucht es ein sinnvolles Maß an Unterstützung und Begleitung. Agile Coachs (nennen wir sie mal so) unterstützen individuell und teamübergreifend dabei, Hindernisse auf dem Weg zu einer agilen Organisation zu identifizieren und zu beseitigen (Lesen Sie hierzu meinen Beitrag zur agilen Organisation). Es zählt u.a. zu ihren Aufgaben, Reflexionsprozesse anzustoßen, offen Manöverkritik zu betreiben und Arbeitsweisen kontinuierlich zu verbessern.
Meinen ganz persönlichen Erfahrungsbericht zur Rolle des agilen Coachs möchte ich im Folgenden schildern. Die von mir beschriebenen Grundregeln sind rein subjektiv, keinesfalls abschließend, noch empirisch belegt. Vielmehr verstehe ich diese als Misserfolgsvermeidungsfaktoren auf dem Weg zu einer stabilen agilen Organisation.
Haben Sie ähnliche oder ganz andere Erfahrungen mit der agilen Zusammenarbeit gemacht? Dann zögern Sie nicht und lassen uns daran teilhaben. Ich freue mich auf Ihre Eindrücke und Berichte.
Die 7 Grundregeln für Agile Coachs
1. Die wahre Hierarchie – die Macht der tragenden Hand!
Oben wird gedacht, unten wird gemacht war früher. Hierarchien gibt es jedoch immer – Organisation ist überall, selbst wenn wir auf Organigramme und Titel verzichten (‘no ranks, no titles’ bei W. L. Gore & Associates). Denn Über- und Unterordnungsverhältnisse entstehen auch durch informelle Beziehungen, nur, dass diese die wahren Kompetenzen im Unternehmen widerspiegeln. Im Unterschied zur klassischen Hierarchie bilden sich Führungspersönlichkeiten in solchen Netzwerken bottom up heraus, sie werden demokratisch legitimiert. Es geht nicht um Titel, sondern um Anerkennung. Dies zeigt sich z.B. darin, wie häufig jemand in Entscheidungen einbezogen wird bzw. um Rat gefragt wird und in dem Maße, wie dessen Empfehlungen und Interventionen anerkannt, akzeptiert und umgesetzt werden. Agile Coachs leisten Überzeugungsarbeit, indem sie nicht nur schlaue Fragen stellen, sondern auch die richtigen Antworten liefern. Sie sind verbindlich und versprechen nur das, was sie auch halten können.
2. Im Zweifel wird kommuniziert – Störungen haben Vorrang
Kommunizieren schadet nie, wenn man es richtig macht. E-Mails bspw. sind keine Kommunikation. Agile Coachs spielen nicht über Bande und weichen nicht aus, sie legen zur Not den Finger in die Wunde, dort wo es brennt. Das ist ihr Job. Störungen haben Vorrang, und diese sind selten rein sachlicher Natur. Agile Coachs sind Top-Kommunikatoren, sie nehmen nicht selten eine Dolmetscher-und Vermittlerrolle ein. So stärken sie bspw. die Ursprungsbeziehung zwischen zerstrittenen Personen und Teams, indem sie Konflikte offen benennen und das Problem bestenfalls auf jemand oder etwas Drittes verlagern. Dabei gilt es, den Fokus z.B. auf ein übergreifendes Ziel oder den gemeinsamen Kunden zu verlagern, also auf etwas, das die Parteien eint. Agile Coachs dürfen das, denn sie sind von diesen legitimiert. Sie haben feine Sensoren und merken sehr genau, wann Unsicherheit entsteht und Kommunikation gefragt ist.
3. Agile Coachs sind kollegial, aber fallen nie aus der Rolle
Klare Rollen sind das A und O. Agile Coachs sind Enabler, kollegiale Berater, das Gegenteil von Kontrolleuren oder Revisoren. Sie sind Blitzableiter und Feuerlöscher in einem! Agile Coachs stellen sicher, dass die Regeln der Selbstorganisation eingehalten werden. Sie räumen Hindernisse aus dem Weg. Sie unterstützen Teams in der Wahrnehmung ihrer Handlungsfähigkeit und kontinuierlichen Weiterentwicklung. Dabei gilt es Rollenkonflikte aus dem Weg zu räumen. Wenn von mir erwartet wird zu moderieren, dann bin ich auch ‚nur‘ Moderator und weder Entscheider, noch Ausführer. Rollen sind klar und deutlich zu beschreiben und verständlich zu kommunizieren. Gerade Selbstverständlichkeiten müssen immer wieder besonders betont werden. „Warum machen wir das noch mal?!“ oder „Was wäre oder würde passieren, wenn wir dies nicht tun?“ (Mein persönlicher Favorit 😉 ).
4. Raus aus der ‚Komfortzone’
Agile Coachs gehen dahin, wo es weh tut! Besonders wenn die Lage für Kollegen/innen unüberschaubar scheint, verharren sie häufig in der ‚Komfortzone‘.
Bei komplexen Sachverhalten bzw. Problemen besteht oft die Gefahr, dass Mitarbeiter passiv werden, sich zurückziehen und nicht selten die Opferrolle einnehmen. Die Frage nach großen, umfassenden Lösungen ist oftmals hinderlich und führt zu nichts! Auch wenn die vermeintliche Lösung noch nicht auf der Hand liegt, kann sich der Problemlösung über einen Umweg genähert werden. Oft aktivieren dabei die Fragen: „Was könnten Sie tun, damit das Problem noch schlimmer wird? Was müsste geschehen, damit gerade das nicht passiert?“ Häufig fällt es Mitarbeitern einfacher zu benennen, was sie nicht wollen. Erste Maßnahmen können ergriffen werden, Befürchtungen entkräftet und eine Argumentationskette in Gang gesetzt werden. Sinnvoll eingesetzte W-Fragen zwingen zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit einem Problem! Entscheidend ist, dass W-Fragen (Was? Wer? Wie? Wieso? Weshalb? Warum? Wozu? Wann? und Wo?) so kleinschrittig wie möglich gestellt werden. Dann erleben die Betroffenen oft wachsende Kompetenz in der Beantwortung problemrelevanter Fragen und nähern sich Stück für Stück der eigentlichen Ursache und damit der Lösung des Problems!

5. Zu viel Druck erzeugt Gegendruck – Die Dosis macht das Gift
Agilität kann nicht von oben verordnet werden. Oben im eigentlichen Sinne gibt es in der agilen Welt sowieso nicht mehr. Hier zählt Pull statt Push. Ideen und Themen werden nur dann weiterverfolgt, wenn sie es aus der Sicht agiler Teams wert sind, also ein positives Aufwand-Nutzen-Verhältnis mitbringen. Erst wenn das Team überzeugt ist, Mitstreiter gefunden sind und sich Kollegen/innen verbindlich zeigen, werden die Aufgaben in die nächste ‚Runde bzw. Spalte‘ gezogen (Kanban lässt grüßen). Agile Coachs fördern und fordern. Wer eine Aufgabe übernimmt, wird daran gemessen, wie er sie meistert. Das Prinzip der Ergebnisorientierung wird von allen agilen Ansätzen beansprucht. Alles, was ein Team erstellt und liefert, leistet einen indirekten oder direkten Bezug zum Kunden und damit zur Wertschöpfung.

6. Mach, dass es funktioniert – Vorsicht vor Überidentifikation
Selbstorganisierte Teams tendieren häufig dazu, sich zu viel aufzuladen. Schnell fühlt man sich für alles verantwortlich, schließlich arbeitet man selbstorganisiert. Jeder macht und kann alles. Gerade deshalb sind gute, funktionierende Routinen und Prozesse zu bewahren. Oft werden sie jedoch vernachlässigt. Doppelarbeiten, Abstimmungsprobleme und Kapazitätsengpässe entstehen und das agile System ist mehr mit sich selbst beschäftigt, anstatt mit Kunden und der Wertschöpfung. Kapazitätsengpässen kann bspw. mit transparenten Work-in-Progress-Limits entgegengewirkt werden. Wichtige, dringliche Themen und Aufgaben gilt es zu identifizieren und zu priorisieren (Tool-Box: Agile Priority Poker – spielerisch zur richtigen Priorisierung).
7. Keine Angst vor Transparenz – Tue Gutes und rede darüber!
Reflexionsrunden und Retrospektiven kommen häufig zu kurz. Agile Coachs sind jedoch auf regelmäßiges Feedback angewiesen. Anders als in klassischen Hierarchien kann man sich in selbstorganisierten Teams kaum verstecken: Kollegen/innen sehen alles und beurteilen einander oft härter und ehrlicher, als es Vorgesetzte tun. In agilen Organisationen wirkt Selbstkontrolle oft besser als Fremdkontrolle. Dabei geht es nicht nur um die Würdigung der Arbeit des Agilen Coachs, sondern um die Beurteilung der agilen Organisation und Teamarbeit insgesamt. Immer verbunden mit dem Bestreben, diese kontinuierlich zu verbessern. Gemeinsam vereinbarte Werte, Leitlinien und Maßstäbe agiler Zusammenarbeit unterstützen die Feedbackschleifen, erhöhen die Objektivität und machen die Teamperformance transparent und vergleichbar.
Die unteren Abbildungen zeigen das Beispiel eines Statusberichts zur Beurteilung unserer agilen Teamarbeit. Die Statusberichte werden regelmäßig im Rahmen der Retrospektive, im Anschluss an einen Sprint / Review gemeinsam mit dem Team erstellt. Zusätzlich erfolgt während der Sprints eine Tendenzeinschätzung, damit der Agile Coach bei Bedarf gegensteuern kann. Die Leitlinien agiler Teamarbeit werden gemeinsam im Kollegenkreis erstellt und vereinbart. Ebenso werden die Beurteilungskriterien ausgewählt und zur besseren Abgrenzung und Einschätzung konkretisiert. Alles in allem ein sinnvolles und transparentes Instrument zur Ermittlung des agilen Reifegrads.




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