Wie Sie Ihre Organisation in Bewegung halten – Spielregeln agiler Strukturen!
Teil 1: Unternehmensorganisation – agile Routine
Wenn bei Wirtschaftsprüfern vom going concern-Prinzip die Rede ist, dann bezieht sich dieser Grundsatz auf die Annahme, dass bei der Bilanzierung und Bewertung von Unternehmen und Unternehmensteilen von der Fortführung der Unternehmenstätigkeit ausgegangen wird. Das going concern-Prinzip ist integraler Bestandteil des sog. Bestätigungsvermerks, dem Testat des Abschlussprüfers über den Fortbestand eines Unternehmens.
Wenn bei Organisatoren vom going concern-Prinzip die Rede ist, dann geht es weniger um Bilanzposten und Jahresabschlüsse. Vielmehr rückt die Unternehmensstruktur in den Fokus. Dazu zählt zum Beispiel die Bewertung des Leitungssystems, das in Form eines Organigramms die hierarchischen Über- und Unterordnungsbeziehungen zwischen Stellen und Abteilungen regelt. Das Leitungssystem wird gemeinhin mit der sog. Primärorganisation gleichgesetzt, welche die dauerhaften Regelungen zur Koordination planbarer Routineaufgaben in der Hierarchie umfasst. Im Gegenzug umschreibt die Sekundärorganisation neuartige und komplexe Aufgaben, die die Hierarchie überlagern, zeitlich befristet sind und typischerweise projektbasiert ablaufen. Sie ergänzen die Koordination durch das Leitungssystem und ermöglichen schnelle, flexible, zielgerichtete Abstimmungen der Beteiligten. Um dem Fortführungsprinzip aus organisatorischer Sicht Rechnung zu tragen, braucht es also beides, die Primär- und Sekundärorganisation.
Primär- und Sekundärorganisation
In diesem (geschlossenen) Modell schließen sich Planbarkeit und Flexibilität nicht aus, sondern gehen Hand in Hand. Unter diesen Bedingungen steht einem ‚uneingeschränkten‘ Bestätigungsvermerk über die Fortführung der Unternehmenstätigkeit aus organisatorischer Sicht nichts im Wege. Es ist an alles gedacht – Stempel drauf, unterschreiben, raus aus der Unterschriftenmappe und rein in die Ablage (natürlich unter Wahrung der gesetzlichen Verjährungsfrist 😉 ).
Leider nur Modelle. Die Wirklichkeit ist viel komplexer.
Leider ist dies nur eine Seite der Medaille. Denn nicht alles ist planbar und durch vorgefertigte Aufgaben, Strukturen und Prozesse zu lösen. Modelle sind vereinfachte Abbilder der Realität und das bedeutet wiederum, dass nicht die gesamte Komplexität, der Unternehmen in Wirklichkeit ausgesetzt sind, modelliert werden kann. Neben die organisierte Planbarkeit wiederkehrender Aufgaben und das einzelfallbezogene Regeln im Sinne dispositiver Aufgaben tritt somit eine dritte Dimension, die den Umgang mit Unsicherheit ‚regelt‘ und oft mit Improvisation gleichgesetzt wird.
Das Industriezeitalter war geprägt durch die Arithmetik der Massenfertigung im Sinne funktionaler Spezialisierung, planbarer Arbeitsteilung und Skaleneffekte. Im heutigen Wissenszeitalter sind Vorhersagen und Prognosen aufgrund der Dynamik und Komplexität schwierig bis unmöglich. Kürzer werdenden Innovations- und Produktlebenszyklen stehen immer komplexere Projekte und Kundenanforderungen gegenüber. Das Verlangen nach individuellen Lösungen steigt. Organisatoren tun sich in einem solchen Umfeld ungleich schwerer, das going concern-Prinzip zu unterschreiben. Improvisation wird zur Regel, Organisation zur Ausnahme! Wie soll ein Organisator da noch seinem Job gerecht werden?
O-Ton eines Organisators: „Ich kann so nicht arbeiten (organisieren)“
Damit Routineaufgaben/-prozesse des Tagesgeschäfts nicht mit überschäumendem Flexibilitätsanspruch ausgehebelt werden und komplexe unvorhersehbare Vorhaben nicht in Aktionismus enden, greifen viele Unternehmen zu agilen Methoden und Ansätzen. Kaum ein Unternehmen kann es sich heute noch leisten, nicht agil zu arbeiten, oder? Aktuelle Studien belegen: die klassischen Wasserfall-Projekte gibt es nach wie vor. Scheinbar sind die Angst vor Kontrollverlust, fehlende Erfahrungen und kulturelle Hürden zu groß. Tatsächlich setzen die meisten Unternehmen auf Mischformen und fahren das Sowohl-als-auch-Prinzip. Dabei ist die Erfolgsquote agiler Methoden nachweislich höher als bei klassischen Ansätzen.
Credo eines Organisators: „Es kommt darauf an!“
Nun greift es sicherlich zu kurz, jeder Dynamik und Komplexität einfach mit agilen Methoden à la Scrum zu begegnen. Unternehmen leisten, indem sie das Tagesgeschäft routinemäßig und arbeitsteilig bewältigen. Ein ‚Hoch’ auf die klassische Organisationslehre. Die Prozessstraße funktioniert, die Vorgaben sind klar, Zufälle werden weitestgehend ausgeschlossen. Genauso müssen Unternehmen aber auch gegenüber neuen Technologien, Kunden- und Produktionsanforderungen flexibel bleiben, ohne dass diese permanent das Tagesgeschäft behindern und Staus erzeugen. Um diesen Abweichungen vom Standard Herr zu werden, bedarf es gewisser Adaptionsroutinen, die entkoppelt vom Tagesgeschäft durch die Sekundärorganisation sichergestellt werden können. Etabliertes wird verbessert, variabel, in vorhersehbarem Rahmen. Innovationsroutinen hingegen erfordern Pioniergeist. Sie beschäftigen sich mit dem Neuen, dem Ungewissen. Fehlertoleranz und Wagemut im Sinne eines schrittweisen Herantastens sind gefordert, Chaos und Scheitern jedoch nicht ausgeschlossen. Innovationsroutinen erfordern eine eigene, eine neue Form der Organisation, eine Tertiärorganisation.
Ein neues, erweitertes, agiles Routineverständnis
Die Aufgabe des Organisators auf Unternehmensebene besteht nun darin, den notwendigen Überblick zu wahren, damit diese drei Dimensionen erkannt, voneinander abgegrenzt und sinnvoll wieder integriert werden. Der Organisator schafft die notwendigen organisatorischen Voraussetzungen dafür, dass er auch in Zukunft einen ‚uneingeschränkten‘ Bestätigungsvermerk über die Fortführung der Unternehmenstätigkeit attestieren kann. Auch wenn dieser Ansatz eines erweiterten Routineverständnisses im Sinne einer Agilen Organisation in der Organisationslehre nicht neu ist, so hat dieser in der Organisationspraxis noch nicht den notwendigen Stellenwert erlangt. Dennoch existieren bereits zahlreiche Unternehmensbeispiele, die diesem Dreiklang aus Standardisierung, Adaption und Innovation entsprechen. 3M’s 15%-, Google’s 20%-Regel, Bayer’s Triple „i“, Motorola’s Early Stage Accelerator, Claim Setting bei Dornbracht oder die Dream Catcher Agency bei T-Systems sind alles Initiativen, um den Ansprüchen an eine agile Organisation gerecht zu werden. Die untere Abbildung stellt diesen Dreiklang zusammengefasst dar.
Die agile Organisation
(Bildquellen: http://stadt-bremerhaven.de/amazon-prime-air-wenn-die-drone-deine-bestellung-ausliefert/
http://www.brandeins.de/archiv/2007/fehler/die-kollektiv-loesung/)
http://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/zalando-manager-im-interview-wir-sind-nicht-perfekt/9213480.html)
Neben der konkreten Ausgestaltung dieser drei Routinecluster kommt es auf die richtige Balance an, damit den Anforderungen des Tagesgeschäfts ebenso wie denen der Veränderung gleichermaßen entsprochen werden kann.
Auf der Suche nach diesem optimalen Organisationsgrad werde ich mich in meinen nächsten Blog-Beiträgen von der Unternehmensorganisation in die Bereichsorganisation bis hin zur Stellenorganisation bewegen, um dem Anspruch eines erweiterten, anwendungsnahen Organisationsmodells gerecht zu werden. Aber Vorsicht, es ist und bleibt ein Modell!
Organisatoren, bewegt Euch und bleibt gespannt! Bis zum nächsten Blog-Beitrag.
Vielen Dank für diesen informativen Artikel, Herr Konz. Ich konnte die “klassische” Unterteilung in Primär- und Sekundärorganisation erst kürzlich im Rahmen eines Beratungsprojekts beobachten: Eine Wirtschaftsförderungsgesellschaft benötigte eine Struktur, die den oft projektbezogenen Tätigkeitsbereichen Rechnung trug, auf Kostenseite abgebildet und durch Erfolgszahlen gesteuert werden konnte.
Wie würden sich Ihrer Ansicht nach die Innovationsroutinen konkret in der Organisationsstruktur erkennbar machen? Ich würde jetzt mal vermuten, dass sie z. B. darin bestehen könnten, in regelmäßigen Abständen externen Input aufzunehmen, der sich in einer Art “Simulation” außerhalb des Unternehmens entwickelt und so neuartige Strukturen hervorbringen kann.
Ich bin sehr gespannt auf die Fortsetzung der Artikelreihe.
Viele Grüße,
Christian Schiller
Lieber Herr Schiller,
ich habe mich sehr über Ihren Kommentar gefreut. Vielen Dank. Sie bringen es auf den Punkt. Viele Unternehmenslenker denken tatsächlich noch in den ‘theoretischen’ Lehrbuchklassen Primär- und Sekundärorganisation. Konfrontiere ich diese analytische Denke mit der Realität der Mitarbeiter eines Unternehmens, wie sie diese Unterscheidung in ihrem täglichen Tun erleben, dann schaue ich oft nur in fragende Gesichter. Meine Erkenntnis dazu: In der Praxis ist diese Unterscheidung wenn überhaupt nur Nebensache. Wenn wir darüber hinaus den aktuellen Trend ‘Agile Organisation’ berücksichtigen, dann weicht die Trennlinie zwischen Linien- und Projektarbeit immer mehr auf. Das lässt sich insbesondere bei Innovationen betrachten.
Wenn Selbstorganisation und internes Unternehmertum gefordert und gefördert werden wollen, dann wird Innovation, Produkt- und Organisationsentwicklung genauso zum Tagesgeschäft, wie andere Aufgaben in der Linie. Dazu braucht es jedoch ein erweitertes, wenn nicht neues Verständnis über Strukturen, Rollen, Ziele und Zuständigkeiten. Aufgaben, Kompetenzen/Rechte und Verantwortungen müssen neu gedacht und ‘geschrieben’ werden. Wenn neben den organisatorischen Routinen des ‘Tagesgeschäfts’, organisatorische Routinen der ‘Innovation’ treten sollen, dann sind Strukturen zu schaffen, die Innovationsmanagement institutionalisiert und sichtbar macht.
Die Kultur, die von Ihnen erwähnten Innovationstypen (super Artikel übrigens) müssen ebenso berücksichtigt werden, wie die darauf aufsetzenden strategischen und operativen Maßnahmen in horizontaler, wie vertikaler Richtung.
Wie machen es andere, was ist die Benchmark? Ich werde mich diesem Thema auch weiterhin in diesem Blog widmen. In meinem Produktmanager-blog (www.produktmanager-blog.de) finden Sie zum Thema Innovation zahlreiche Beiträge, die unsere Diskussion hier durch weitere Beispiele und Ansätze ergänzen.
Klicken Sie sich einfach mal rein, z.B. in:
http://www.produktmanager-blog.de/innovation-braucht-zeit-innovationsroutinen-erst-recht/
“Innovation braucht Zeit – Innovationsroutinen erst recht”
In Kürze folgen auf meinen Blogs weitere Beiträge zu diesem Thema.
Bleiben Sie mir treu!
Vielen Dank und bis demnächst.
Christian
Vielen Dank für diesen informativen Artikel, Herr Konz. Ich konnte die “klassische” Unterteilung in Primär- und Sekundärorganisation jüngst in einem Beratungsprojekt beobachten: Eine Wirtschaftsförderungsgesellschaft arbeitet schwerpunktmäßig in Teams, die verschiedene Projekte in unterschiedlichen Zeiträumen bearbeiten. Zugleich überschneiden sich immer wieder die Kompetenzen der Teams bei einzelnen Projekten. Hier galt es, eine Struktur zu entwickeln, die zwar diese projektbezogene Flexibilität bewahrte, aber zugleich in einem Kostensystem zurechenbar abgebildet und durch Erfolgszahlen gesteuert werden konnte.
Wie würden sich Ihrer Meinung nach die Innovationsroutinen, von denen Sie sprachen, in der Organisationsstruktur bemerkbar machen? Noch stelle ich mir vor, dass diese Innovationen bzw. der Input dazu hauptsächlich aus externen Quellen stammt, weil intern entwickelte Konzepte auf Grund der bestehenden Struktur und ggf. auch wegen einer daraus resultierenden “Betriebsblindheit” verzögert, wenn nicht gar behindert werden. Wie sehen Sie das?
Vielleicht bietet dieser Blogartikel noch etwas zusätzlichen Input: http://www.harvardbusinessmanager.de/blogs/welcher-innovationstyp-sind-sie-a-1054576.html
Ich bin sehr gespannt auf Ihre nächsten Artikel!
Viele Grüße,
Christian Schiller